Hamburg ist eine echte Sportstadt. Fußball, Handball, Tennis, Cyclassics, Triathlon, Reitsport, Marathon – die Liste der Events ist lang. Und jetzt will die Stadt das ganz große Ding an Land ziehen – die Olympischen Spiele.

Als der Sport zum wiederholten Male in der Stadt, ausgerechnet in der City, sein Quartier aufschlug, schien der Kollateralschaden groß. Die Schwäne wurden aus der trüben Binnenalster gefischt, in Seitengewässer umquartiert und die umliegenden Händler und Hoteliers, die im Gegensatz zum Federvieh auf die Schnelle keine neue Bleibe fanden, zeterten mit den ausgegrenzten Autofahrern im Chor über Straßensperrungen, die ihr Leben erschwerten, einige meinten gar ihre Existenz.

Die Erregung schlug Wellen nicht nur an den Alsteranlegern. Hamburg befand sich im Sommer des Jahres 2007 im gefühlten Ausnahmezustand. Der Grund dafür: die Triathlon-Weltmeisterschaft. Die Stadt diskutierte: „Wie viel Sport verträgt Hamburg?“ Die Antwort scheint inzwischen gefunden: viel, aber bitte zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Und: Die Innenstadt ist der Sportplatz der Zukunft. Dass der Sport im Zentrum der Metropolen in Hamburg und anderswo mehr denn je Faszination ausübt, macht ihn zum werthaltigen Produkt. Für alle Seiten, auch für jene, die seine Anwesenheit vor der eigenen Haustür in Bürgerinitiativen, bei Facebook oder anderen sozialen Netzwerken beklagen. Bilder von Athleten mit dem Rathaus, der Alster, der Elbe und dem Hafen im Hintergrund wecken die Neugier der Menschen, schaffen einen positiven Imagetransfer für die gesamte Stadt, je nach Reichweite der Medien deutschland-, europa- und im Falle Olympischer Spiele weltweit.

Davon profitieren in einer langen Wertschöpfungskette letztlich alle, kulturell und wirtschaftlich: Sportler, Geschäftsleute, Ein- und Anwohner. Die Marketingmacht der Großveranstaltungen transportiert die Begeisterung der Bevölkerung in alle Ecken der Erde, das zudem relativ preiswert. Und beim Thema Enthusiasmus müssten sich die Hamburger nicht verstecken, sagen alle, die Sport an Alster und Elbe live erlebt haben: „Die Leute hier haben eine unfassbare Lust auf Sport. Das zeigt sich jedes Jahr aufs Neue.“

Den Trend haben Hamburgs Politik und Verwaltung nach zahlreichen Richtungskämpfen akzeptiert. Genehmigungshürden wurden abgebaut, Werbeverbote an Alster und Rathausmarkt gelockert, wenn nötig wurden Gespräche mit Kaufleuten und Kritikern moderiert. Umweltauflagen wiederum akzeptieren die Sportorganisatoren anstandslos. Das verantwortliche Bezirksamt Mitte, das sich lange als Bedenkenträger gefiel, hat sich an die Spitze der Bewegung gesetzt. Als 2007 die Innenstadt gleich an mehreren Wochenenden hintereinander nicht zugänglich war, steigerte sich die Aufregung über mehrtägige Straßensperrungen noch in Wut. Heute sind die Termine entzerrt, was die Akzeptanz der Händler erhöhte. Begeistert sind viele allerdings immer noch nicht. Die wichtigste Erkenntnis: Nicht die Zahl der Veranstaltungen ist entscheidend, vielmehr deren Abfolge.

Sport in der City lockt eine andere Kundschaft in die Innenstadt: Touristen und Sportinteressierte. Notorische Autofahrer bleiben zu Hause. Der Verkauf von Sportzubehör steigt an diesen Tagen, der anderer Produkte sinkt. Das gleicht sich ein Wochenende später aus, wissen die Geschäftsleute, aber: Wenn erneut eine Sportveranstaltung stattfindet, die Zugänge zu den Läden wieder blockiert sind, entsteht ein Problem. Ein Teil der Kundschaft wandert ab, viele für längere Zeit. Im Wettbewerb der Metropolen werden Events, kulturelle wie sportliche, eine wachsende Rolle spielen. Einst ging es darum, Industrieansiedlungen in die Städte zu holen, jetzt gilt es vor allem für Second Cities, Nicht-Hauptstädte wie Hamburg, Aufmerksamkeit zu erzeugen, den Tourismus zu beleben, Knowhow und High Potenzials anzulocken – mit Angeboten für die ganze Familie. Sport und Kultur sind dabei wichtige Impulsgeber, sie ziehen auch ältere, einkommensstarke Besucher an.

Und die sind für die Kommunen besonders attraktiv. Die Abstimmung mit den Füßen war zuletzt eindeutig: 300.000 Menschen sahen nach Schätzungen der Hamburger Polizei beim Triathlon zu, diesem Dreikampf aus Schwimmen, Radfahren und Laufen, 700.000 beim Marathon, ebenso viele bei den Cyclassics, einem Radrennen der höchsten internationalen Kategorie, das in diesem Jahr in Kiel gestartet wird. Sport in der City, die gefühlte greifbare Nähe zum Ereignis und seiner Darsteller, machen diese Veranstaltungen zum intensiven emotionalen Erlebnis. Alles Trennende scheint trotz der Absperrungen verschwunden. Der Zuschauer ist beim Triathlon, Marathon und den Cyclassics Teil der Inszenierung, die Massen um ihn herum und deren Begeisterungsfähigkeit wirken anziehend auf ihn. Soziologen sprechen von einer „Gefühlsansteckung“.

Der Literaturnobelpreisträger Elias Canetti (1905-1994) hat in seinem Hauptwerk „Masse und Macht“ den Menschen von Natur aus als unsoziales Wesen beschrieben: „Steht er im Aufzug, drängt er sich in die Ecke, um sich dem körperlichen Kontakt zu entziehen.“ Nur in der Masse verliere der Mensch seine Berührungsangst. Der Verlust jeder Individualität werde sogar als befreiend empfunden, man sei nicht mehr allein einer undurchschaubaren Welt ausgesetzt. Sport findet Stadt. Das Konzept hat sich durchgesetzt. Die Rückkehr der Wettkämpfe in die City hat Bewegung in herkömmliche Sportstrukturen gebracht – und Hamburg hat es vorgemacht. Veranstaltungen für Spitzensportler, Jedermänner und zum Teil Schüler im urbanen Ballungsraum sind zu Exportschlagern geworden. Die Funktionäre der Sportweltverbände sprechen längst mit Hochachtung vom „Hamburger Modell“.

Die Konsequenz dieser Erfahrungen mündete in die Hamburger Olympiabewerbung mit ihrem kompakten innerstädtischen Konzept. Zentrum der Spiele soll die Elbinsel Kleiner Grasbrook werden, die nach Realisierung der Planungen mit dem Rad in zehn Minuten vom Rathausmarkt erreicht werden kann. 2003 scheiterte Hamburg noch im nationalen Wettstreit mit Leipzig an handwerklichen Mängeln und einer Aufbaustimmung Ost, am 21. März dieses Jahres entschied nun die  Mitgliederversammlung des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB) in der Frankfurter Paulskirche einstimmig, dass Hamburg – und nicht die Hauptstadt Berlin – als Deutschlands Kandidat für die Sommerspiele 2024 oder 2028 ins Rennen geht.

In einer repräsentativen Meinungsumfrage hatten sich Ende Februar 64 Prozent der Befragten für Sommerspiele in Hamburg ausgesprochen. Die Mobilisierung der Befürworter stellt jetzt die größte Herausforderung dar. Bei der gescheiterten Volksabstimmung in München über die Winterspiele 2022 hatte bei einer Wahlbeteiligung von 28,6 Prozent zwar jeder zweite Olympiagegner seine Stimme abgegeben, aber nur jeder fünfte Fürsprecher. Mit 52:48 Prozent setzten sich folglich die Gegner durch. Der Hamburger Sportbund (HSB) hat deshalb in Zusammenarbeit mit seinen 26 größten Clubs, den sogenannten Topsportvereinen, Ende April Vorschläge erarbeitet, um seine rund 450.000 Mitglieder an die Urnen zu bringen.

Sternmärsche von den Clubheimen zu den Wahllokalen sind geplant oder die gemeinsame Stimmabgabe ganzer Mannschaften, zum Beispiel nach Fußballspielen. Auch die Olympiagegner machen mobil. Zu hohe Kosten, Mietpreissteigerungen, Gentrifizierung, Ausverkauf innerstädtischer Flächen, Verdrängung ganzer Milieus sind ihre wichtigsten Argumente. Ihr Slogan: „Stoppt den Olympia-Wahnsinn!“ Die Fundamentalisten unter ihnen lehnen Olympische Spiele grundsätzlich ab, selbst reformierte, nachhaltige, umweltschonende, wie sie das IOC in seiner Agenda 2020 beschreibt. Noch sind es wenige, wenn die ersten Kostenrechnungen der Stadt im Spätsommer vorliegen, die in die Milliarden gehen werden, hoffen die NOlympia-Initiativen auf regen Zulauf. Sport hat in Hamburg eine jahrhundertlange Tradition. Die vorübergehende Vertreibung aus dem Stadtzentrum hatte nach dem Ersten Weltkrieg eingesetzt, als immer mehr Sportstätten in die Peripherie verschwanden, die Innenstadt für Handel und Industrie und deren Werkbänke geräumt wurde. Dabei steht an der Alster und in der Altstadt eine der Wiegen des europäischen Sports. Zwischen Dammtor und Steintor wurde schon im 17. Jahrhundert Fußball gespielt, die HT 16 aus Hamm, der älteste Turnverein der Welt, weihte 1817 die weltweit erste Turnhalle ein, 1836 wurde mit dem späteren Hamburger und Germania der zweitälteste Ruderklub der Welt gegründet, 1844 fand die erste Ruderregatta auf dem europäischen Festland auf der Außenalster statt. Das Galopp-Derby in Horn wird seit 1869 gelaufen, zum Tennis am Rothenbaum seit 1892 aufgeschlagen. Andere Traditionen sind weniger bekannt.

Den Hamburger Schachklub von 1830, der älteste Schachverein Deutschlands, heute auch der größte, gründeten Kaufleute am Jungfernstieg. Der Wandsbeker Athleten Club von 1879 stand ebenfalls als Vorbild Pate. Er ist der älteste Kraftsportverein Deutschlands. Die Entwicklung Hamburgs zu einer weltoffenen Metropole hat der Sport mit seiner integrativen Kraft und dem sozialen Engagement seiner Vereine immer an vorderster Stelle begleitet. Olympische Spiele, immer auch ein Fest der Begegnung vieler Kulturen, könnten also durchaus helfen, das Zusammenwachsen der Stadt zu befördern. „Der Sport führt Menschen aus Wellingsbüttel und Wilhelmsburg, Billstedt und Blankenese zusammen“, sagt Sportsenator Michael Neumann (SPD), „das schafft keine andere gesellschaftliche Kraft. Im Sport zählt nicht, wo du herkommst, sondern allein das, was du kannst.“

 

Text: Rainer Grünberg

Rainer Grünberg, Chefreporter beim Hamburger Abendblatt, ist einer der profiliertesten Autoren in Deutschland, wenn es um Sportpolitik und Olympia geht. Eigene Erfolge erzielte er in einer nicht-olympischen Disziplin: als Bundesligaspieler am Schachbrett.