Zwischen Mythos und Moderne: Hamburg ist mit Wasser, Handel und Seefahrt verankert wie kaum eine andere Metropole. Der Hafen ist ein Wirtschaftsfaktor, auf den die Hansestadt bis heute bauen kann.

Hamburg und die Elbe bilden eine unzertrennliche Einheit. An den Landungsbrücken vergnügen sich die Touristen. In den Docks von Blohm+Voss wird an den Ozeanriesen gearbeitet.

An stillen Tagen ist es fast in der ganzen Stadt zu hören, dumpf und mächtig. Ein monströses Blasen, das sich von Süden über halb Hamburg legt: das tiefe, markerschütternde Tuten der Schiffshörner, wenn mal wieder ein großer Dampfer einläuft, ein Containerriese oder ein Kreuzfahrtschiff. In den Büros, Geschäften und Wohnungen halten die Hamburger kurz inne. Denn dieses Geräusch ist wie ein Signal der Sehnsucht. Ein hörbares Markenzeichen der Hansestadt – das noch immer so viele Bilder erzeugt.

In diesem Tuten liegt bis heute der Geschmack der Seefahrt, als stecke diese in den Hamburger Genen. Es ist wie eine Prise weite Welt: Seeluft, Fernweh, großes Meer. Man muss nicht weit gehen, um das Szenario live zu erleben. Spätestens unten an den Landungsbrücken gibt es großes Kino. Träge fließt die Elbe stromabwärts, ein steifer Südwestwind bläst über kleine Kabbelwellen, Möwen fliegen kreischend unter schnell ziehenden Wolken. Schuten, Schlepper und Fähren dampfen über die Elbe, drüben auf den Docks von Blohm+Voss donnern Niethämmer, fliegen die Funken der Schweißgeräte, im Hintergrund scharen sich Wälder von Ladekränen um gigantische Frachter, die aus aller Welt kommen und in alle Welt fahren. Wie oft ist die Rede davon, dass die Romantik der Seefahrt dahin ist? Sicher, das mag stimmen – aber in Hamburg ist sie dennoch niemals ganz tot zu kriegen. In welcher anderen Metropole schon kommen sich Hafen und Stadt so nahe, liegen Kaimauern, Wohnhäuser und Büros vis à vis? In St. Pauli, Othmarschen oder Blankenese müssen die Leute nur auf die Balkone treten und sehen die dicken Pötte zu ihren Fü.en fahren.

Die Seefahrt und der Hafen. Für Hamburg bedeutet dies viel mehr als Klischee und traumhafte Assoziation aus guten alten Tagen, als Hans Albers noch in den Pinten schmetterte und krummbeinige Matrosen über die Reeperbahn wankten. Im Gegenteil: Die Formel stimmt bis heute, ist äußerst real – und eine der großen Säulen, auf denen der wirtschaftliche Erfolg der Stadt beruht. Keiner kann es genau belegen, doch ein Großteil aller Besucher und Touristen dürfte noch heute nach Hamburg kommen – nicht in erster Linie wegen seiner Musicals, Geschäfte oder großen Sportereignisse. Der Hafen ist es, der anzieht wie kaum etwas anderes. Einmal an Hamburgs Waterkant stehen, diese salzige Brise atmen, die Schiffe bestaunen, die vertäuten Großsegler und die Dalben, auf denen der Möwenschiet klebt – und dabei dieses wundersame Gefühl rauer Freiheit spüren, das wohl jeder empfindet, der unten am Hafen spaziert.

Die Souvenirläden sind Zeugen dieser ungreifbaren Stimmung. Buddelschiffe, Kapitänsmützen, Blaujacken, Schiffsmodelle. Plakate alter Schifffahrtsgesellschaften, geschnitzte Leuchttürme, Postkarten mit nackten Dirnen, Taucherhelme aus Bronze und Petroleumlampen aus Messing: Die typischen Pretiosen gehen ans Herz, laufen noch immer bestens – und stehen für das maritime Hamburg wie nichts anderes. Eben diese Verbundenheit mit der See dürfte der Stadt jedes Jahr Millionen, wenn nicht Milliarden einbringen. In modernem Fachkauderwelsch ließe sich sagen: ein Unique Selling Point, der über die Jahrhunderte gewachsen ist und in dem die unschätzbaren Ingredienzen maritimer Träumereien stecken. Hier und da lässt sich der Erfolg dieser Seefahrtsatmosphäre natürlich doch beziffern.

Beim Hafengeburtstag im letzten Jahr kamen mehr als 1,5 Millionen Besucher auf die Partymeile zu den Landungsbrücken.

Beim letzten Hafengeburtstag 2011 kamen 1,5 Millionen Menschen nach Hamburg. Rekord. Läuft die „Queen Mary 2“ ein oder aus, reisen Zehntausende Besucher aus ganz Deutschland an und säumen jubelnd die Ufer. Auch die Touren durch Hafen, Speicherstadt und Hafencity sind begehrt. Man muss ja nur auf den Fischmarkt gehen. Rammelvoll wie eh und je. Jeden Sonntag kommen um die 70 000 Besucher hierher – und das in aller Herrgottsfrühe. Besucher und Touristen sind die eine Sache. Hinter den Kulissen des Hafens geht es indessen handfest zur Sache, Tag und Nacht, 365 Tage im Jahr.

Der Hamburger Hafen ist einer der ganz großen Wirtschaftsmotoren der Stadt. Hier sitzen Reedereien, die ihre Schiffe in die ganze Welt schicken.

Docks, Containerterminals, Werften und Speditionen arbeiten ununterbrochen. Waren aus allen Erdteilen treffen fast stündlich ein und werden ebenso wieder von Hamburg aus auf die Meere geschickt.

Ewiges Treiben. Die Seefahrt schläft nie, schon einige Zahlen belegen das. Etwa 12 000 Seeschiffe laufen Hamburg pro Jahr an und machen an 320 Liegeplätzen fest, darunter immer mehr Ultra Large Container Ships, Riesenschiffe, die fast 400 Meter lang sind und eine Ladekapazität von über 14 000 TEU haben (Twenty-foot equivalent unit als Maß für eine gängige Containergröße). Schwimmende Kleinstädte sind das, die sich kolossal über die Elbe schieben – fast bis in die Innenstadt.

Rund 176 000 Menschen gibt der Hamburger Hafen Arbeit, das entspricht der Einwohnerzahl Potsdams. 304 Kilometer Schienen verlaufen durch diesen Hafen, 132 Kilometer Straßen und 49 Kilometer Kaimauern. Zudem schmücken ihn 143 Brücken, die die vielen Hafenbecken, Schleusen und Seitenarme queren. Das Tor zur Welt? Auch davon darf heute noch die Rede ein – vielleicht sogar mehr denn je. Rund 90 Prozent der Stückgüter des Welthandels werden inzwischen mit Containerschiffen transportiert. Wobei der Hamburger Hafen unglaubliche Zahlen vorlegt: Die Schiffe, die ihn anlaufen und verlassen, steuern 950 Häfen in 178 Ländern an.

Um diesen Ablauf zu gewährleisten, haben sich rund um den Hafen Hunderte Firmen, Zulieferer und Dienstleister angesiedelt. Sogar mit der Uni Hamburg arbeitet man zusammen, um Logistik, Strategien und Planung wissenschaftlich zu erfassen. Und zu optimieren. Ohne Frage, die Krise hat auch dem Hamburger Hafen zugesetzt. Doch dieser hat schnell reagiert. Wolfgang Hurtienne, neben Jens Meier Geschäftsführer der Hamburg Port Authority, sagt: „Der Hamburger Hafen liegt mitten in der Stadt. Wir können nicht einfach Küstenflächen aufschütten, um neue Terminalflächen zu schaffen. Wir arbeiten also weiter daran, noch effizienter zu werden und nach innen zu wachsen.“ In Zahlen: 2010 gingen 7,9 Millionen 20-Fuß-Standard-Container über die Hamburger Kaikanten und bescherten ein Umschlagplus zum Vorjahr um 12,7 Prozent. Und 2011 knallten die Korken. Allein die Hamburger Hafenbahn transportierte erstmals zwei Millionen Standardcontainer in einem Jahr und erzielte das beste Ergebnis ihrer Geschichte. Hamburg ist der führende Eisenbahnhafen Europas. 2012 sind allein hierfür 70 Millionen Euro Investitionen geplant.

Auch die Hamburger Hafen und Logistik AG (HHLA) etwa holte im Geschäftsjahr 2010 auf. Der Containerumschlag wuchs um 19, der Konzernumsatz stieg um 8,3 Prozent auf 1 073 100 Euro. Zahlen aber sind abstrakt. Sie belegen die Wirtschaftskraft des Hafens zwar in messbarer, nicht aber in anschaulicher Weise. Dafür braucht sich ein jeder nur einmal in seiner Wohnung umzuschauen. Die Zitronen in der Küche, die Lockenwickler im Badezimmerschrank. Bügeleisen, Hemden, Kaffeetassen, Feuerzeuge, Kerzen, Möbel, Fernseher, Radios und Computer: Man frage sich, wie all diese Alltagsgegenstände ihren Weg in die Stadt und die guten Stuben gefunden haben? Der Großteil kam per Schiff – und landete aus aller Welt zunächst im Hamburger Hafen. Ohne ihn stünden die Regale leer, würde der Handel kollabieren. Eine sehr alte Weisheit der frühen Seefahrer liegt all dem zugrunde. Schon sie wussten um die Magie und den Nutzen der Meere: „Wasser gibt dem leisesten Druck nach – und doch trägt es die schwersten Lasten.“ Eine, die dieses physikalische Wunder jeden Tag hautnah erlebt, ist Katrin Lünz, 32. Sie hat einen der begehrtesten Jobs im Hafen. Als Brückenfahrerin am Eurogate sitzt sie in beinahe 50 Meter Höhe in einem gläsernen Cockpit wie in einem

Sternenjäger bei „Star Wars“ und hantiert mit Zigtausenden Tonnen Fracht, die über die Elbe an die Terminals gelangen – getragen von jenem wunderbaren Element Wasser. In ihrer Kanzel hoch über dem Hafen hantiert sie mit Joysticks, bedient Instrumente, Knöpfe, Schaltpaneele. Damit steuert sie ein gelbes 1800-Tonnen-Stahlmonstrum – einen jener modernen Kräne, die das Hafenbild heute prägen und mit denen die Container an den vier großen Terminals der HHLA und von Eurogate im Minutentakt von den Schiffen gehievt werden. „Es gibt Momente, da halte ich oben auf dem Kran inne und schaue hinaus“, sagt Lünz. „Dann realisiere ich erst, was hier alles passiert. Schiffe kommen rein, große, kleine, aus Fernost und USA, dazu die Stadt im Hintergund, der Wind, das immer wechselnde Wetter und die Tag und Nacht über die Kais und Docks wuselnden Menschen. Dann spüre ich regelrecht den Zauber dieses Hafens, seine Kraft.“

Mehr als 120 Reedereien sitzen in Hamburg. Mit rund 1500 Schiffen und über 46 Millionen Bruttoregistertonnen wird von hier aus die Hälfte der deutschen Handelsflotte bereedert. Hamburg ist zudem der größte Handelsplatz für Pharma-Rohstoffe in Europa, das weltweit größte Zentrum für Teppichhandel und -lagerung. Auch als Papierumschlagplatz ist Hamburg Spitze, und fast nirgends werden solche Mengen an Tee, Kakao, Kaffee und Gewürzen umgeschlagen. Doch was zeigt diese Erfolge letztlich besser als all die Schiffe, denen wir so gerne hinterherblicken, wenn ihr Kielwasser gen See geht, hinaus in die Welt? Man kann sie sehen, tagein, tagaus. Und hier und da stockt einem der Atem. Wenn etwa die „CSCL Jupiter“ über die Elbe zieht. Sie ist das bisher größte Schiff, das den Hafen angelaufen hat: 365 Meter lang, 51 Meter breit, 15 Meter Tiefgang. Auf der Grundfläche des Decks könnten drei Bundesligaspiele gleichzeitig stattfinden. Nichts als ein seegehendes Monstrum, das 165 300 Tonnen Fracht tragen kann – und dabei doch nur ein kleines Rädchen ist in diesem uralten, nimmermüden Getriebe namens Hamburger Hafen.

Text: Marc Bielefeld

Marc Bielefeld ist freier Autor in Hamburg. Er schreibt besonders gern über Flugzeuge und die Schifffahrt. Seine Texte erscheinen in Merian, Zeit und Lufthansa Magazin.