Der Architekt MEINHARD VON GERKAN hat den Berliner Hauptbahnhof, die Millionenstadt Lingang sowie den Flughafen Tegel gebaut. Und den Hauptstadtflughafen geplant. Im Interview erläutert er, warum der gerade nicht sein Lieblingsobjekt ist.

club!: Herr von Gerkan, wie läuft’s in Lingang?
Meinhard von Gerkan: Oh, es wächst. Inzwischen leben fast 400 000 Menschen dort. Aber wir sind immer noch in der Aufbauphase.

Irgendwann soll die Stadt so groß sein wie Hamburg.
Nicht ganz. Wir planen für zirka 1,3 Millionen Einwohner. Lingang New City liegt am Rand der Metropolregion Shanghai, unmittelbar am Meer, aber wir haben einen See als Zentrum angelegt, kreisrund, mit einem Umfang von genau zehn Kilometern. Heute ist das ein sehr beliebter Ausflugsort. Um den See herum ist ein breiter Streifen Grün, die Leute kommen aus Shanghai, machen da Picknick oder bauen Zelte auf und bleiben über Nacht. Oder, sehr beliebt: Sie feiern Hochzeit am Ufer, mit allem Drum und Dran. Und die Mitarbeiter unseres Planungsbüros dort machen gern mal einen Wettlauf: Die einen laufen im Uhrzeigersinn um den See herum, die anderen in Gegenrichtung, und je nachdem, wo sie sich treffen, können sie sehen, wer gewonnen hat.

Das Büro Gerkan, Marg und Partner plant eine Millionenstadt in China – das war sicher ein Höhepunkt in Ihrer Karriere als Architekt. Und irgendwie erinnert das Projekt an Ihren ersten großen Coup: den Flughafen Berlin-Tegel, der ebenfalls ein Kreis ohne Zentrum ist.
Ein Sechseck, um präzise zu sein. Und das vermeintlich nicht vorhandene Zentrum ist der Ort, von dem aus der ganze Flugplatz bedient wird. Dort treffen die Fluggäste ein, von dort fahren sie in die Stadt. Und weil die Grundform einem Kreis so nahe kommt, hat kein Reisender es weiter als, sagen wir: dreißig Meter, um vom Bus oder Taxi in sein Flugzeug zu kommen. Genial! Eigentlich sollten Sie mit diesem Verteilungsprinzip die Mutter aller Flugplätze erfunden haben. Das haben uns damals, 1975, viele so gesagt. Trotzdem blieb Tegel ein Unikat – weil nämlich die Leute protestiert haben, die am Flughafen ihre Läden betreiben. Sie haben es lieber, wenn Fluggäste auf ihrem Weg zum Gate und während sie dort warten, an einem üppigen Angebot von Parfüm, Spirituosen, Klamotten, Souvenirs und so weiter vorbeigeführt werden.

Wie bitte? Wir schleppen unser Handgepäck kilometerweit durch die Gänge, nur damit die Flughafen-Händler ihre Geschäfte machen können?
Nicht nur. Tegel war ursprünglich auf 2,5 Millionen Fluggäste pro Jahr ausgelegt. Inzwischen sind es mehr als zehnmal so viele. Da stößt das Layout an seine Grenzen. Außerdem ist seit damals der internationale Terrorismus als neue Bedrohung hinzugekommen und die umfangreichen Sicherheits-Checks lassen sich natürlich besser zentral organisieren als für jeden Flugsteig einzeln.

Trotzdem: Mit dem Design eines Flughafens nach dem Vorbild einer Niere wurden Meinhard von Gerkan und Volkwin Marg, blutjung, quasi über Nacht zu Stars. Wie war das: Sie hatten noch nicht einmal ein Büro?
Stimmt. Als die Auftraggeber aus Berlin uns in Hamburg besuchten, hatten wir gerade unser Studium beendet. Da mussten wir ein paar Freunde bitten, sich tief über die Zeichentische zu beugen. Hat funktioniert. Heute geht es bei uns aber geordneter zu.

Zwischen einer Millionenstadt in China und einer Andachtskapelle in Hofgeismar – Ihrem kleinsten Projekt – gibt es eigentlich nichts, was das Büro gmp nicht umgesetzt hat: Sportstadien, Museen, Opernhäuser, Luxusvillen, Bahnhöfe. Bitte helfen Sie uns: Wo ist die gemeinsame Linie?
Die zu finden überlassen wir den Architekturkritikern. Wir konzentrieren uns auf die Projekte. Jedes ist einzig in seiner Art und jedes braucht eine spezielle Lösung.

Sehr bescheiden …
Gar nicht. Aber Architektur ist nun mal Verhandlungssache. Sie müssen als Architekt immer Rücksicht nehmen auf den Investor. Der zahlt nämlich. Und gibt deshalb auch die Richtung vor. Ein Beispiel, ebenfalls aus China: Wir haben in Peking ein Quartier mit 6000 Wohnungen gebaut. Nun müssen Sie einmal darauf achten: Wenn Sie im Flugzeug über China hinwegfliegen, dann ist das ganze Land quer gestreift. Alle Wohnungen werden in Nord-Süd-Richtung gebaut. Ob das noch aus den Zeiten Maos stammt oder von Konfuzius, ich weiß es nicht. Aber es gilt als Regel, niemand fragt auch nur danach. Und jeder Investor sagt dem Architekten, andere Wohnungen kann er nicht verkaufen. Was meinen Sie, wie zäh wir verhandeln mussten, bis wir zumindest 15 Prozent der Wohnungen in Ost-West-Richtung bauen durften. Anders können Sie nämlich keine Blocks anlegen, keine Plätze, auch kein vernünftiges Netz an Straßen – aber genau das brauchen Sie, um einer Stadt auch ein Gesicht zu geben, ein Lebensgefühl. Und siehe da: Die Wohnungen in diesem Teil des Quartiers sind zu höheren Preisen verkauft worden als die konventionellen!

Herzlichen Glückwunsch! Aber soll das heißen: Den Fortschritt in der Architektur bestimmt allein der Bauherr? Und wenn der keine Ahnung hat, keinen Geschmack oder keine Skrupel, dann haben die Fachleute keine Chance?
Doch, haben sie. Aber Sie als Kunde, als Konsument, sollten sich auch Ihrer Rolle bewusst sein: Worauf springen Sie denn an? Was fordern Sie? Und wofür geben Sie Ihr Geld aus? Das sind die Dinge, die einen Investor interessieren, und auf die er reagiert. In China war es die einheitliche Ausrichtung der Häuser, bei uns sind es vielleicht Materialien, ist es die Erwartung einer Dauerhaftigkeit. Wir Architekten können Ideen entwickeln, können sie auch umsetzen. Ob sie Erfolg haben, sich durchsetzen – das entscheidet der Markt. Aber da tut sich was …

Zum Beispiel?
Vor einiger Zeit war ich eingeladen, als Vorsitzender einer Jury für die Zeitschrift Baumeister über das „Haus des Jahres“ zu befinden. Ich mache das schon seit Jahren und meist sind es Luxusvillen, die da zum Wettbewerb antreten – diesmal hat ein Haus aus Blech gewonnen, ein Ausreißer in jeder Beziehung. Es stand in der Gegend von München, rings herum lauter bayrische Folklore- Architektur. Und mitten drin dieses Ding aus gefaltetem Industrieblech, das sich nicht einmal die Mühe machte, nach etwas anderem auszusehen als nach dem, was es war. Absolut ehrlich. Das fanden wir toll! Der Vorbote einer Trendwende? Ich denke schon, dass sich die öffentliche Meinung da wandelt. Natürlich gab es auch Proteste. Leser des Magazins schrieben, unser Urteil sei ein Verbrechen an der Architektur. Aber unter den Kollegen in der Jury war deutlich zu spüren, dass der Weg jetzt in eine andere Richtung geht. Die wollten es einfach nicht mehr so klotzig und protzig. Das Material ist billig und praktisch, es hat zwar keinerlei Wärmedämmung, aber die kann man von innen dagegensetzen. Die Werte des Hauses sind mustergültig. Dazu ist der Architekt Guntram Jankowski aus Berlin sehr intelligent mit den Innenräumen umgegangen, das Haus bietet großzügig Platz für eine Familie mit zwei Kindern, es hat angenehme Proportionen, angenehmes Klima. Und das ist es, was zählt.

Bye, bye Backstein, hello Wellblech: Ein bisschen traurig ist das schon …
So weit würde ich nicht gehen. Die Beharrungskräfte von Tradition und Geschmack sind groß, siehe bayrische Folklore-Architektur. Aber immerhin wächst die Zahl der Alternativen und immerhin verbreitet sich die Nachricht, dass sie funktionieren. Diese Blechteile etwa lassen sich vormontieren. Was meinen Sie, wie praktisch das ist. Und wie sparsam. Da bleibt vielleicht sogar etwas übrig für einen besseren Bauplatz, im Grünen oder am Wasser. Sie müssen nur darauf achten, dass Sie mit solchen Modulen beim Transport auch unter der Brücke hindurchkommen.

In Städten wie Hamburg sind über 50 Prozent der Haushalte Ein-Personen-Haushalte. Wäre es nicht an der Zeit, dass der Wohnungsmarkt entschiedener auf solche Entwicklungen reagiert? Auf den demografischen Wandel, die Auswirkungen der Digitalisierung, auf neue Konzepte von Mobilität und neue Ideen vom gemeinsamen Leben?
Tut er doch längst. Aber meist sind es noch Pioniere, die sich an so etwas heranwagen wie Baugemeinschaften, integriertes Wohnen, neue Materialien, ökologisches Bauen. Der Markt reagiert mit großer Verzögerung, weil der kalkulierte Erfolg eines Investors sich immer an der Vergangenheit orientiert. Da gibt es eine Statistik, und die schreibt brav die Verhältnisse fort, wie sie vor 15 oder 20 Jahren galten. Über den Tellerrand gucken nur die Schlauen.

In Tokio baut der Architekt Kengo Kuma sogar das Stadion für die Olympischen Spiele 2020 aus Holz. Architekten können also machtvolle Zeichen setzen.
Wir haben in unserem Masterplan für die Spiele 2024 in Hamburg, die ja nun nicht kommen, einen anderen Weg beschritten. Da ging es auch um Nachhaltigkeit, aber nicht nur in den Materialien, sondern in der Nutzung. Unser Konzept sah vor, dass sich die ganze Arena ohne großen Aufwand zurückbauen ließ – in einen Park, eine Sportanlage, die auch im Alltag zu nutzen ist. Und wo zuvor die Zuschauerränge waren, da hatten wir Wohnungen geplant.

Was geschieht denn sonst mit diesen Riesenbauten, wenn die Veranstaltung einmal vorbei ist? Es wäre ja nicht Ihr erstes Stadion gewesen …
Niemand sonst hat so viele Stadien in der ganzen Welt gebaut wie wir. Und ich sage Ihnen ganz offen: Aus der ökonomischen Perspektive, auch aus der städtebaulichen und der ökologischen sind diese Vorzeigebauten geradezu ein Verbrechen. Und wir Architekten sind daran beteiligt – ich beziehe mich da ausdrücklich ein. In Brasilien zum Beispiel, Manaus: Dort gibt es kaum genug Fußballspieler, um so ein gewaltiges Stadion zu bespielen. Also steht es unnütz in der Landschaft und rottet vor sich hin. Oder Kapstadt, die WM 2010: Ich war im Viertelfinale dort, Deutschland gegen Argentinien, 4:0, der ganze Kessel brodelte. Aber dieses Stadion wird nie wieder voll besetzt sein! Es steht auf dem wahrscheinlich wertvollsten Bauland von Südafrika, fast nur Weiße können sich leisten, dort zu leben – aber gerade die sind es, die sich für Fußball am wenigsten interessieren.

Ihre Selbstkritik ehrt Sie. Aber was lässt sich ändern? Für viele Länder sind solche Veranstaltungen ein Mittel, sich international ins Gespräch zu bringen.
Wir hätten in Hamburg gern eine Alternative vorgestellt. Und wir haben es getan auf der Expo 2000 in Hannover. Dort haben wir den Christuspavillon gebaut, einen stillen Andachtsraum mitten im Getöse der Weltausstellung. Und als alles vorbei war, haben wir ihn komplett zerlegt, ihn 600 Kilometer weit nach Thüringen verfrachtet und in Volkenroda wieder aufgebaut. Dort dient er jetzt als Wallfahrtskirche. Geht alles, man muss es nur von Anfang an einplanen. Und den richtigen Bauherrn dafür finden.

Ein Wort zum Hauptstadtflughafen in Berlin, der bestimmt nicht Ihr aktuelles Lieblingsprojekt ist …
Das kann ich bestätigen!

… der aber doch eine bemerkenswerte Klammer bildet zum Flughafen Tegel, mit dem Sie Ihre Laufbahn begonnen haben. Über die Querelen, die Pannen, die bürokratischen Verzögerungen brauchen wir nicht zu reden. Ihrem Ärger darüber haben Sie in einem Buch Luft gemacht, „Black Box BER“, das bestimmt nicht ganz zufällig ein Bestseller wurde. Aber irgendwann wird dieser Flughafen Berlin-Brandenburg – BER – ja auch fertig werden. 2018 soll es so weit sein. Wird er Sie dann vielleicht doch mit demselben Stolz erfüllen wie Tegel?
Keine Chance!

Weil Sie unversöhnlich sauer sind?
Nicht mal in erster Linie. Ich habe schon die Hoffnung, dass die Architektur ihre Anerkennung findet, wenn der Flughafen einmal seinen Betrieb aufgenommen hat und das Berliner Publikum diesen Ort erleben kann. So ähnlich, wie es hier bei der Elbphilharmonie war – seit der Eröffnung ist ja ganz Hamburg selig. Wir haben immer für die Architektur in BER gekämpft, egal, wer da gerade zuständig war, und egal, welchen irreparablen Schaden das bürokratische Desaster dort an unserer Reputation angerichtet hat. Nur hat sich durch die extreme zeitliche Verschleppung inzwischen ein Problem ergeben, unter dem auch Tegel zu leiden hat.

Nämlich?
Die Zahlen. Der Flughafen ist seit fünf Jahren praktisch fertig, nur ist der Flugverkehr in dieser Zeit exponentiell angestiegen. Das hat niemand vorausgesehen. Berlin ist zum Drehkreuz für den gesamten Osten geworden. Solche Hub-Funktion hatten bislang nur Frankfurt und München. Jetzt wird also erweitert werden müssen und das werden die Betreiber bestimmt nicht mit uns machen. Dabei haben wir Hamburg gebaut, Stuttgart, nicht zu vergessen Berlin-Tegel: erstklassige Architektur, funktioniert bestens. Wir können nämlich Flughäfen!

 

MEINHARD VON GERKAN, 82, ist in Riga, Lettland, geboren und in Hamburg aufgewachsen. Er studierte an der Technischen Hochschule in Braunschweig Architektur und gründete im Anschluss 1965 gemeinsam mit seinem Partner Volkwin Marg das Architektenbüro gmp mit Sitz in Hamburg. Bereits in den ersten zwei Jahren gewann gmp acht Architekturwettbewerbe, darunter den für den Entwurf des Flughafens Berlin-Tegel, den ersten Drive-in-Airport Deutschlands. Viele Arenen, Museen, Krankenhäuser, Konzerthallen und Sportarenen folgten. Zu seinen größten Projekten zählt die chinesische Metropole Lingang New City.

 

Interview: Martin Tschechne Foto: Ivo von Renner