Eigentlich wollte er Profisportler werden, doch dann spielte der Körper nicht mehr mit. So wurde Charly Hübner einer der bekanntesten Schauspieler Deutschlands. Mit club! sprach er über Kicks auf Bühnen und Bergen, Psychokram sowie Kommissar Bukow und Frau König.

club!: Herr Hübner, die meisten von uns kennen Sie aus der Krimiserie „Polizeiruf 110“. Sie sind Bukow: rauh, schmuddelig und manchmal denkt man, der ist selbst mehr russische Mafia als Kommissar.
Charly Hübner: Ich bin glücklich, dass die verantwortlichen Leute Lust hatten auf diesen Menschen, der sehr verwurzelt ist in seiner Rostocker Welt. Der ist in der DDR aufgewachsen wie ich, ein Wendejugendlicher, der sich hochgebuddelt hat. Vor einem wie Bukow hätte ich einen Heidenrespekt. Der ist mit allen Wassern gewaschen.

Empfinden Sie diese Rolle, mit der Sie besonders populär geworden sind, eher als Fluch oder Segen?
Fluch gar nicht, nur Segen. Diese Figur bietet so viele Möglichkeiten. Den Bukow kann man mal von seiner sanften Seite zeigen, dann wieder brutal als einen Haufen Dreck und beim dritten Mal rappelt er sich auf, fängt wieder an zu trainieren und sein Leben in den Griff zu kriegen. Dieser Bukow ist für mich ein fast philosophisches Thema, weil er so grundambivalent ist. Er hat diese schlecht gefärbten dunklen Haare, die schlechten Klamotten, aber um all das geht es gar nicht. Bei ihm geht es nur um eines: einigermaßen durchs Leben zu kommen. Das ist Bukow.

Würden Sie Bukow zutrauen, im Smoking aufzutreten?
Bukow würde ich alles zutrauen. Den könnte man im superteuren Anzug in eine Hamburger Abendgesellschaft stellen und er würde seinen Weg gehen. Das wäre mal lustig, ihm am Anfang des Films zu sagen: Rasier’ dich, mach’ dir Pomade ins Haar, zieh’ einen Anzug an. Würde der super hinkriegen.

Im Film spielt Ihre Kollegin Anneke Kim Sarnau die Ermittlerin …
… Frau König. Super wichtig.

Als Zuschauer fürchtet man jedes Mal, jetzt schmeißt einer von beiden hin und lässt sich versetzen nach, sagen wir mal, Berlin oder Frankfurt.
Nö. Die beiden sind wie Birken. Die haben dieselbe Wurzel, aber zwei Stämme. Deshalb wachsen sie ein Leben lang parallel, die gehören einfach zusammen. Wenn man einen absägt, geht der andere ein. Bukow und Frau König, das ist eine philosophische Lebensverwandtschaft.

Dafür fetzen sie sich aber reichlich häufig.
Sie sind zu sehr Spiegel für den anderen, deshalb diese krasse Anziehung und das totale Abstoßen. Darum haben wir Bukow in einer Folge zu ihr sagen lassen: Kommen wir eigentlich mal zusammen? Wissen wir natürlich auch noch nicht. Aber ich denke, so einen Rausch kann sich Bukow gar nicht antrinken, dass aus denen was wird. Bevor die anfangen zu knutschen, gehen sie allein nach Hause.

Sie selbst waren als Jugendlicher Leistungssportler. Aus gesundheitlichen Gründen mussten Sie Leichtathletik und Handball von einem Tag auf den anderen an den Nagel hängen. Wie tief war das Loch, in das Sie damals gefallen sind?
Schon ziemlich. Wenn Dir das mit 17 passiert, ist es ja anders als mit 37. Zeitgleich brach die DDR weg, meine Heimat also. Ich würde sagen, ich war monatelang rasant orientierungslos. Ich wollte dann Publizist werden, Journalist in Krisengebieten. So bin ich in Kreise von Leuten gekommen, die eher nicht so sehr Sport trieben, sondern intellektuell unterwegs waren. Die schleppten mich in eine Theaterclique.

Und Sie wussten: Das ist meine Zukunft?
Mit denen hatte ich erst einmal gar nichts am Hut. Einige kannte ich vom Saufen, aber das Theater war mir völlig fremd. Dann gab es eine Abschlussfeier, bei der ein Stück aufgeführt wurde. Es spielte in unserer Generation, so ein Abrechnungsstück. Und ich merkte, Themen, die einen selbst bewegen, zur Reflexion noch einmal auf die Bühne zu bringen, das hat etwas mit mir gemacht.

Und plötzlich bekam das Leben wieder Konturen?
Erst später, im Urlaub, ich glaube, das war Vorsehung. Ich war mit einem Freund, meinem späteren Kommilitonen an der Schauspielschule, in der Türkei. In einem alten Amphietheater auf den oberen Rängen fängt er plötzlich an, Shakespeare zu zitieren: Sein oder nicht sein. Du, unten gehen Touristen, Italiener und Franzosen, und sie klatschen und brüllen: Bravo! Bravissimo! Totaler Kitsch. Das Bild, das ich heute dazu sehe, ist: Ich stehe vor so einer alten Elektroanlage mit einem riesigen Knopf: Ein und Aus. Und ich drücke Ein. Das war mein „Magic Moment“.

Haben Sie Gemeinsamkeiten gefunden zwischen dem Beruf des Schauspielers und des Sportlers?
Klar. Es gibt sicher Kollegen, die sagen: Nein. Bei mir dagegen ist das Sportlerleben immer noch so in den Knochen, dass ich es in der Schauspielerei weiterlebe. Es geht dabei um die Orientierung auf ein Ziel hin. Wenn ich im Theater Premiere habe, dann will ich, dass mir die Vorstellung gefällt, dass die Regie es cool findet und das Haus und die Zuschauer auch. Das ist wie beim 100-Meter-Lauf. Du sagst vorher, heute würde ich gern Rekord laufen, aber auf jeden Fall will ich Erster werden. Das ist meine innere Psychologie.

Sind Sie deshalb auch ein Sammler?
So wie Sportler Medaillen sammeln? Bei mir ist es so, dass es Sachen gibt, die mich null interessieren. Und Sachen, die ich einfach um mich herum haben will. Ich bin beispielsweise in einem eher nicht so bücherreichen Haushalt aufgewachsen. Aber ich habe mir schon ganz früh gewünscht, einmal eine eigene Bibliothek zu haben. Irgendwann habe ich dann angefangen, Bücher zu lesen und sie zu sammeln. Das Gleiche ist dann mit Filmen und Musik passiert. Das tue ich nur für mich. Jetzt ist es allerdings an der Zeit, wieder einmal auszusortieren. Aber natürlich gibt es genau dann ganz viele Einschränkungen und Gründe, warum man ein Buch doch wieder behalten möchte.

Wenn man wie Sie so unterschiedliche Genres wie Filme für Kino und Fernsehen macht, Theater spielt, was reizt Sie an dieser Vielfalt? Was unterscheidet diese Disziplinen?
Was mich am Film und Fernsehen fasziniert, ist die Nähe. Es gibt im Idealfall fast überhaupt keinen Abstand zwischen der Figur und dem Zuschauer. Alles ist pur, ohne Tricks, wie ein gutes Gespräch. Beim Theater habe ich am meisten Lust auf das intellektuelle Spektakel. Auf Regisseure und Dramaturgen, die viel intellektueller arbeiten als beim Film. Das ist eine Reflexionsmaschinerie. Und wenn du dich darauf einlässt und das, was die sich alles ausgedacht haben, versuchst zu verkörpern, und das gelingt auch noch, ist das der größte Kick. Rausgehen auf die Bühne, 1200 Leute vor dir und du musst einfach Gas geben.

Ist dieser Kick vergleichbar mit Erfolgserlebnissen im Sport?
Auf eine Art: Ja! Ich klettere leidenschaftlich gern. Gar nicht gut. Keine krassen Wände, eher die leichten, aber die um so lieber. Wenn ich dann manchmal nach echten Verzweiflungsmomenten den Gipfel erreiche, ist das ein ähnlicher Kick wie im Theater.

Ihr neuestes Projekt ist die Verfilmung von Sven Regeners Kultroman „Magical Mystery“. Sie sind Karl Schmidt, Opfer eines depressiven Nervenzusammenbruchs am Tag der Maueröffnung und seitdem in einer drogentherapeutischen WG. Klingt erst einmal nach schwerer Kost.
Der Typ ist mir so ans Herz gewachsen, um den möchte ich mich den Rest meines Lebens kümmern. Karl Schmidt hat ja eine fast typische Biografie aus jener 80er-Jahre-Zeit. Man kam nach Berlin, wo man am freiesten war in der BRD, wo es die besten Musikclubs gab. Und dann sind einige Leute durch eine Mischung aus Unterernährung, Vitaminmangel und ein bisschen zu vielen Drogen in so einen Psychokram reingerutscht. Und plötzlich waren sie am Point of no Return und wussten: Mit diesem Problem muss ich mich für den Rest meines Lebens befassen.

Haben Sie solche Erfahrungen auch gemacht?
Ich gar nicht. Ich bin sozusagen ohne toxische Sachen groß geworden. Die ganzen BRD-Drogen gab es bei uns nicht. Ich war auch nie an Theatern, an denen das gängig war. Über die Jahre ist das Spielen der Kick, der mich mehr berauscht als alles andere. Ich finde es ja immer wieder irre, was man da alles erleben darf. Heute Abend zum Beispiel spiele ich James Tyrone in dem Stück „Eines langen Tages Reise in die Nacht“, Schwerstalkoholiker, Schauspieler, sein Leben ist passé. Er hat in seiner Karriere nur eine Musicalrolle gespielt, hat damit unheimlich viel Schotter gemacht. Kann das ganze Geld aber nicht genießen, weil er panische Angst hat, dieses Geld wieder zu verlieren und wieder arm sein zu müssen. Der Abend ist auf eine geheimnisvolle Weise immer unklar vorher. Wir Spieler wissen nie, wo wir am Ende landen. Das ist ein Rausch.

Auch Ihr Karl Schmidt im „Magical Mystery“ hat das Leben trotz seines jungen Alters eigentlich schon hinter sich. Aber dann trifft er einen alten Kumpel und geht mit ihm und seiner Band auf Tour.
Es ist ein Geschenk des Schicksals, dass dieser Film gerade jetzt kommt. Natürlich kommt man bei Sven Regener um Humor nicht herum, aber auf einer anderen Ebene ist dieser Film auch total politisch. Es gibt da eine Szene, in der wollen die Freunde einen Hamster beerdigen, und Karl Schmidt soll die Trauerrede halten.

Also eigentlich der, der am wenigsten reden kann …
Genau. Sie stehen mit dem Hamster an einem Mülleimer und Schmidt hält eine total pathetische Rede. Sein Kern ist, dass man die Tour ja finden kann, wie man will, aber das Beste ist, dass ein Halbirrer wie er und zwei Hamster mit dazugehören dürfen. Die Botschaft ist: Bei euch darf jeder mitmachen! Und diese liberale und offene Haltung ist in Zeiten, in denen überall wieder diese Selektierer auftauchen, die uns sagen wollen, wer ein guter Mensch ist und wer ein schlechter, ein Geschenk.

Sie haben gerade den Dokumentarfilm „Wildes Herz kennt keine Ruh’“ über den Sänger der Punkband „Feine Sahne Fischfilet“ fertiggestellt. Darüber werden Sie bei einer Veranstaltung der Stiftung „Was Tun!“ im Business Club Hamburg berichten. Wie wichtig ist es für Sie, sich einzumischen und für gesellschaftliche Werte einzutreten?
Worüber ich stolpere, ist, dass ein Bewusstsein über die Verfassung verloren gegangen scheint. Die Verfassung ist ja eine gesellschaftliche Grundverabredung, die für die meisten Menschen gut ist. Und ich habe den Eindruck, dass dieses Gefühl, was gut ist, besonders bei der jungen Generation gerade verloren geht. Wenn ich mit den Punks aus Vorpommern spreche: Die haben die Verfassung noch nie gelesen. Die werden vom Verfassungsschutz als Systemfeinde markiert und wissen gar nicht, worauf sich das bezieht.

Bei Ihrem Lebenslauf – aufgewachsen in der DDR, Mauerfall, Ihr Vater hat spät zugegeben, bei der Stasi gewesen zu sein –, mussten Sie da nicht zwangsläufig ein politischer Mensch werden?
Naja. Das weiß ich nicht, aber ich merke, dass es ein Gefühl in mir gibt, alles immer mit einem gesellschaftlichen Auftrag zu verbinden oder eine Art Relevanz. Warum beschäftigt man sich und das Publikum mit diesem bestimmten Thema? Das ist wie ein Chip, den sie mir in 16 Jahren DDR eingepflanzt haben.

Sie sind aufgewachsen in Mecklenburg-Vorpommern, haben in Berlin und Frankfurt gelebt und jetzt in Hamburg. Wie erleben Sie die reichste Stadt Deutschlands?
Als ich nach Hamburg kam, war in Berlin gerade der Potsdamer Platz im ersten Schwung fertig gebaut, diese künstliche Lego-City. Und in Hamburg stand ich dann auf dem Heiligengeistfeld und dachte mir: Das ist die krasseste Fläche überhaupt, Investoren würden sich darauf stürzen, dafür würde die Stadt extrem viel Geld bekommen, und trotzdem verkauft sie nicht. Und das gefiel mir. Da steckte für mich viel Stolz und Lässigkeit dahinter. Und diese Mischung erlebe ich immer noch. Man weiß, wer man ist, aber qua eigener Geschichte als Handelsstadt ist Weltoffenheit ein über lange Zeiten entstandenes Gen und das gefällt mir.

Charly Hübner , 44, stammt aus Neustrelitz in Mecklenburg-Vorpommern. Nach einer Ausbildung an der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ in Berlin spielte er unter anderem am Theater in Frankfurt am Main sowie in Berlin und Zürich. Einem breiten Publikum wurde er 2006 durch seine Rolle in dem Oscar-prämierten Film »Das Leben der Anderen« bekannt. Seit 2010 ermittelt er als Kommissar Bukow im Rostocker »Polizeiruf 110«, für den er 2013 den Bayerischen Fernsehpreis erhielt. Weitere Auszeichnungen: Goldene Kamera 2013 (bester deutscher Schauspieler), Grimme-Preis 2015 („Bornholmer Straße“). Hübner ist verheiratet mit der Schauspielerin Lina Beckmann. Sie leben mit Ihrem Sohn Karl in Hamburg.

Gespräch: Andreas Eckhoff  Fotos: DCM/Gordon Timpen, NDR/Christine Schröder, Ivo von Renner