Gestern war alles getrennter. Man wusste stets genau, ob man sich gerade in der Realität befand oder in einer Inszenierung. Und wenn man es nicht so genau wusste, gab es ein einfaches Rezept, um Traum von Wirklichkeit zu trennen: einmal kneifen. Die Träume kamen im Schlaf, dann waren sie kostenlos, oder aus einer Traumfabrik, ob Hollywood oder Theater, und dann kosteten sie. Wer die schönsten, spannendsten, schauerlichsten Geschichten am besten erzählte, spielte, inszenierte, wurde reich und berühmt. Das erste Gewerbe, in dem sich Stars entwickelten, war denn auch der Kinofilm: 1910 wurde erstmals eine Schauspielerin als „Amerikas berühmtester Filmstar“ gefeiert – Florence Lawrence für ihre Rolle in „The Broken Oath“.
Morgen wird alles verschwommener. Wir können gleichzeitig in der Realität und in der Inszenierung sein, ohne überhaupt zu bemerken, wann wir die Grenze dazwischen überschreiten. Und wir können uns nicht mehr darauf verlassen, dass es unseren Mitmenschen genauso geht: Sie können physisch am gleichen Ort sein, aber dort etwas völlig anderes sehen und erleben. Einen Vorgeschmack davon, wie das sein wird, bekamen wir im Sommer 2016 – durch Pokémon Go. Diese Smartphone-App spielte ihren Nutzern zu fangende Wesen und zu erobernde Spielstätten auf dem Bildschirm ein – obwohl es nichts „wirklich“ zu sehen gab: Im Brunnen auf dem Marktplatz schwammen keine Pokémon- Figuren, sie wurden nur auf den Smartphones so dargestellt. Innerhalb weniger Wochen hatten sich auch die Nicht-Nutzer dieser App daran gewöhnt, dass an manchen Plätzen mehr Menschen als sonst auf ihr Smartphone starrten oder etwas Unsichtbarem hinterherliefen – und ganz offensichtlich eine eigene Welt erlebten.
Die kleinen Monster waren natürlich künstlich, dafür sorgten schon die Nintendo-Designer. Aber genauso gut kann eine „Augmented Reality“ gestaltet werden, die künstlich natürlich aussieht. Eine App beispielsweise, die das Berlin vor dem Mauerfall wieder auferstehen lässt – und den Touristen, die hilflos durch die Hauptstadt auf der Suche nach deren Hauptattraktion irren, endlich etwas zum Anschauen geben. So sah das hier früher aus; und für einen kleinen Aufpreis mischt die App auch noch ein wenig Geruch von Braunkohle und Zweitakterbenzin in die Nase.
Die neuen Real-Traum-Mixe werden auch jede Menge neue Arbeitsmöglichkeiten für Kreative schaffen. Muss ja alles designt und inszeniert werden, um dem Publikum zu gefallen. Vielleicht kommen wir ja sogar so weit, dass wir auch die älteste, verbreitetste, kostenloseste aller Traumwelten gestalten lassen können: den Traum selbst. Anstatt an der Kinokasse dafür zu zahlen, zwei Stunden gut unterhalten zu werden, wählt man sich dann eben vor dem Einschlafen das Programm aus, das man gerne träumen möchte. „Alexa, einen Weltuntergang bitte, den ich ganz alleine verhindere.“ – „Direkt vor dem Aufwachen, wie üblich?“ Gute Nacht.

 

Text: Detlef Gürtler