So legendär wie die Unternehmensgründungen in der Garage sind die grandiosen Ideen auf der Serviette. Plötzlich, beim Essen, beim Kaffee, beim Smalltalk, beim Flirt, ist sie plötzlich da – die Idee Ihres Lebens. Und während da für Steuererklärungen der profane Bierdeckel herhalten muss, kommt bei Steuersystemen eher die edlere, weißere Serviette zum Einsatz. So war es bei der berüchtigten Laffer-Kurve, mit der im September 1974 der US-Ökonom Arthur Laffer den US-Politiker Donald Rumsfeld davon überzeugte, dass man mit Steuersenkungen die Staatseinnahmen erhöhen könnte.

Rumsfeld nahm das Tüchlein, gedanklich zumindest, mit zum späteren Präsidentschaftskandidaten Ronald Reagan; die Fußnoten hingegen, die hätten erklären können, warum diese einfache Theorie in der Praxis eher selten funktioniert, hatten leider auf der Serviette keinen Platz – und Reagan, dem Komplexität ohnehin ein Graus war, ließ sich von diesem hypervereinfachenden Serviettismus sofort überzeugen. Das Voodoo-ökonomische Verhängnis, das über mehrere historische Verwicklungen bis zur aktuellen globalen Schuldenkrise führte, nahm seinen Lauf. Vielleicht sollte man also die Restaurants dazu zwingen, beim Besuch von Politikern auf das Auslegen von Servietten zu verzichten.

Etwas anders liegt die Sache bei Unternehmern. Die dürfen komplett einfach gestrickt sein und denken, schließlich müssen viele von ihnen jahrzehntelang ein und dasselbe Produkt verkaufen, das halten komplexere Persönlichkeiten ja gar nicht aus. So verdanken wir einer Serviette die Revolutionierung des Luftverkehrs seit den 1970er Jahren. Von einem elitären Luxus-Fortbewegungsmittel entwickelte sich das Flugzeug zum preiswerten Massentransporter – und das alles dank eines Dreiecks, das der US-Geschäftsmann Rollin King 1966 bei einem Essen zeichnete. An die drei Eckpunkte schrieb er Dallas, Houston und San Antonio und der möglichst günstige Dreiecksverkehr zwischen diesen drei texanischen Metropolen sollte das Erfolgsrezept seiner neuen Fluglinie, Southwest Airlines, werden.

Und es wurde sogar mehr als das: nämlich das Rezept aller Billig-Fluglinien. Der phänomenale Erfolg von Southwest (mit mehr als 100 Millionen Passagieren im Jahr 2007) beruhte nicht zuletzt auf der konsequenten Direktflug-Orientierung. Während die klassischen Fluglinien auf das Drehkreuz-Konzept setzten und setzen, bei dem viele Passagiere am zentralen Flughafen der Linie umsteigen müssen, verbinden Southwest und deren Nachahmer immer zwei Städte direkt miteinander. Außer Ryanair natürlich – die verbinden in der Regel zwei Dörfer fernab jeglicher Zivilisation.

Moment mal: Wenn eine einfache Serviettenidee viele Jahre später einem derart menschen- und vor allem kundenfeindlichen Monster wie Ryanair den Weg bereitet, müsste dann nicht konsequenterweise auch allen Geschäftsleuten beim Essen die Serviette gestrichen werden? Und müsste das dann nicht auch bedeuten,dass eigentlich jeder Gast in Zukunft ohne einen beschreibbaren Kleckerschutz auskommen müsste? Immerhin kann mit der richtigen Idee jeder Mensch zum Unternehmer werden.

Ach, wahrscheinlich würde auch diese Radikalkur nicht funktionieren. Wenn Menschen die wahre, richtige, große Idee haben, werden sie sich auch von einem Serviettenmangel nicht davon abhalten lassen, sie niederzuschreiben. Der Schriftsteller W. C. Fields nutzte 1941 mangels Schreibpapier eine Kaufquittung, um eine Drehbuchidee zu notieren – die er dann für 25 000 Dollar an ein Hollywood-Studio verkaufte. Der walisische Schriftsteller Roald Dahl schrieb einmal, völlig papierlos unterwegs, eine Idee mit dem Finger in den Staub auf seinem Auto. Und der Musiker Richard Berry hatte 1955 in einer Bar die Idee zu seinem späteren Hit „Louie Louie“. Da die Bar keine Servietten hatte, holte er sich einfach ein paar Blatt Klopapier. Das kann man nun wirklich nicht abschaffen.

 

Von Detlef Gürtler

Clubmitglied Detlef Gürtler ist Wirtschaftsjournalist und Buchautor. Er lebt in Berlin und im spanischen Marbella.