Am Anfang der Weltliteratur standen zwei Erzählungen über die so ziemlich lausigsten Seefahrer aller Zeiten: die alten Griechen, deren maritimes Scheitern Homer in den Helden-Epen über den Troja-Eroberer Agamemnon und die Irrfahrten des Inselfürsten Odysseus literarisch wertvoll bemäntelte. Trotz, oder besser wohl gerade wegen ihrer vielinsligen Topografie lernten die antiken Griechen nämlich niemals richtig seefahren. Nie außer Sichtweite des Landes, keine Nacht auf See verbringend tasteten sie sich von Bucht zu Bucht am Mittelmeer entlang. So orientierungslos wie Odysseus herumzuirren, wäre einem phönizischen Kapitän nie passiert; und wegen einer Flaute die eigene Tochter zu opfern wie Agamemnon, schon gar nicht.

Seefahrerisches Scheitern ist bis heute Stoff für große Dramen, ob vor Troja oder vor der Insel Giglio. Aber bei den alten Griechen war es mehr als das: Ihre bodenlose Unfähigkeit führte nämlich zum Aufstieg zur wichtigsten damaligen Regionalmacht. Denn wer unterwegs keine Nacht ohne sicheren Hafen auskommt, muss nun mal zwangsläufig ganz viele Kolonien gründen. Von der Türkei bis nach Spanien sprenkelten die Griechen damit die Küsten von Mittel- und Schwarzem Meer. Die seefahrerisch so überlegenen phönizischen Kaufleute hingegen hinterließen kaum Spuren – handeln macht reich, aber eben nicht berühmt.

Zwei Jahrtausende später machte ein anderes Seefahrervolk das besser: die Engländer. Sie verbanden im 16. Jahrhundert von Anfang an den Seehandel mit dem noch deutlich mehr Vermögen akkumulierenden Geschäftsmodell der Piraterie. Nicht gegen die hanseatischen Pfeffersäcke (die hätten ihnen auch kräftig das Fell über die Ohren gezogen, wie einst dem Klaus Störtebeker), sondern gegen die spanischen Gold- und Silberfrachter. „Merchant adventurer“ nannte sich das beschönigend, und wohl nicht zufällig wurde die als „Weltumsegelung“ berühmt gewordene Plünderfahrt Francis Drakes (1577 – 1580) von einem Konsortium vorfinanziert, an dessen Spitze der Gründer der Londoner Börse stand. Und der Pirat wurde 1581 geadelt.

Ein gutes Jahrhundert später erhielt auch die piratige Ideologie ihren Ritterschlag: in John Lockes „Second Treatise of Government“ von 1690, der Grundlegung von Liberalismus und Kapitalismus. Locke löste die individuelle Freiheit von ihren gesellschaftlichen Bindungen, das Recht auf Eigentum von der sozialen Verpflichtung. Der Wagemut der maritimen Freibeuter wurde, philosophisch überhöht und gesellschaftlich gebändigt, zur Blaupause für die militärische und ökonomische Eroberung der Kontinente.

Derzeit, weitere drei Jahrhunderte später, sind wieder einmal Piraten unterwegs, diesmal nicht im realen Ozean, sondern im virtuellen Datenmeer. Wie ihre maritimen Urahnen mit wendigen Schiffen die schwerfällige Armada der Spanier attackierten, nehmen sie den Kampf mit den juristisch hochgerüsteten Konzernen und Bürokratien auf – mit beachtlichem politischem und ökonomischem Erfolg. Ein Großdenker, der ihr Freiheitsverständnis in eine neue Philosophie, eine Grundlegung der zukünftig modernen Gesellschaft veredeln würde, ist zwar bislang noch nicht am Horizont aufgetaucht; aber in der frühen Neuzeit musste man darauf ja auch mehr als hundert Jahre warten.

 

Von Detlef Gürtler

Detlef Gürtler ist Wirtschaftsjournalist und Buchautor. Er lebt in Berlin und im spanischen Marbella.