Wenn der „olympische Geist“ beschworen wird, ist das in der Regel auf „Dabei sein ist alles“ bezogen. Als ob das tatsächlich den Geist beschreiben würde, der bei Olympischen Spielen durchs Stadion fegt. Das Lob des Dabeiseins singen dort traditionell die Verlierer, und auch der Neuerfi nder Olympias, der Franzose Pierre de Coubertin, hatte etwas ganz anderes im Kopf: citius, altius, fortius. Schneller, höher, weiter – so hieß sein Motto schon zum Neustart 1896 und so hieß auch das Motto des 20. Jahrhunderts. Wachstum! Rekorde! Siege! Und alle vier Jahre wieder dürfen die Völker dieser Welt das – friedlich immerhin – zelebrieren. Vielleicht ja demnächst auch einmal in Hamburg.

Die Auflehnung gegen das ewige „Schneller, Höher, Weiter“ wurde von der Gesellschaft lange in die subversive Ecke gesteckt. „Hippies“ oder „Haschrebellen“ in den späten 60ern, „Tunix-Festivals“ in den frühen 80ern, missratene Bürgerkinder, Loser eben. Das Wachstumsdenken in seinem Lauf hielt weder Ochs noch Esel auf.

Oh, wait. Begab es sich nicht ungefähr zu jener Zeit, da Erich Honeckers System vor der Freiheits- und Konsumdynamik kapitulierte, dass die ersten massiven Risse in der heilen Welt des Rekordsports auftauchten? 1988, bei den Sommerspielen von Seoul, das legendäre 100-Meter-Finale von Ben Johnson gegen Carl Lewis, das der bullige Johnson gegen Carl den Großen gewann, nur um zwei Tage später wegen Dopings die Goldmedaille wieder aberkannt zu bekommen. Und ebenfalls 1988 die offenbar für die Ewigkeit gemachten Lauf-Weltrekorde von Florence Griffi th-Joyner, bei der auf den ersten Blick zu erkennen war, dass da rein körperlich etwas nicht mit rechten Dingen zugegangen sein konnte. (Da sie nie des Dopings überführt wurde, kann natürlich auch ihr früher Tod im Jahr 1998 mit nur 38 Jahren nichts mit Medikamentenmissbrauch zu tun gehabt haben…)

Die Geschichte der Olympischen Spiele der Neuzeit zeigt genauso deutlich wie die parallele Geschichte des Kapitalismus, wie grandios effektiv eine Wettbewerbsordnung, eine Rekord-Orientierung, ein „Schneller, Höher, Weiter“ dabei ist, die Leistung zu steigern. Mehr Training, bessere Ernährung, ein Schuss Psychologie brachten die Sportler an die menschlichen Leistungsgrenzen; verbesserte Technik schob sie auch schon mal weiter nach draußen, vom Kraulstil beim Schwimmen über den Fosbury-Flop beim Hochsprung bis zum V der Skispringer. Doch wenn die Grenzen erreicht sind, die Grenzen des Körpers hier, die Grenzen des Umsatzwachstums dort, wird oft zu Dopingmitteln gegriffen, von Anabolika bis Collateral Debt Obligation.

Die Alternative? Bei Goethes Faust hieß sie Stillstand: „Werd ich zum Augenblicke sagen, verweile doch, du bist so schön.“ Was der Hallodri natürlich erst in den letzten Minuten seines Lebens und auf den letzten Seiten der Tragödie Zweiten Teils sagt. In der Wirtschaft gibt es seit 1989 eine nicht still stehende, aber dafür langsam gehende Variante davon: die Slow-Bewegung. „Qualität braucht Zeit“, lautet einer der Slow-Food-Grundsätze – die Entschleunigung wurde gesellschaftsfähig. Nicht umsonst ziert eine Weinbergschnecke das Logo der Slowfoodler.

Aber der Sport? Der kann das doch nicht machen! Nicht schneller, nicht höher, nicht weiter, wie soll das denn gehen? Nicht auszudenken, man würde etwa zu „Slowlympia“ aufrufen! Oh, wait: Der Berliner Kultursenator Tim Renner hat das gemacht? Selber schuld – so kommt man dem olympischen Geist hierzulande nicht bei. Und deshalb heißt es nun eben für Hamburg „Dabei sein ist alles.“

Text: Detlef Gürtler
Detlef Gürtler ist Wirtschaftsjournalist und Buchautor. Er lebt in Berlin und im spanischen Marbella.