Wohnen solle ein Geräusch machen, wünschte sich einst der Poet Max Goldt. Dann wäre auch klar, dass mit dem Tätigkeitswort „wohnen“ eine Tätigkeit verbunden sei – bislang könne man nämlich leider, so Goldt, „nicht ausschließlich wohnen, man raucht, schläft oder steht dabei. Ich würde gern mal versuchen, eine Minute lang nur zu wohnen, das wäre eine wunderbare Meditation. Wohn, wohn, wohn. Man müsste intensiver wohnen. Schließlich ist das ein Grundrecht, das der gütige Staat mir gewährt.“
Nun ist das Wohnen zwar formaljuristisch kein Grundrecht, da (anders als beispielsweise in Spanien) in unserer Verfassung kein Recht auf Wohnen verankert ist. Faktisch aber sind sich der Poet und der Sozialstaat einig, dass ein Dach über dem Kopf notwendiger Bestandteil eines menschenwürdigen Lebens ist. Und diese Würde „zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt“, sagt das Grundgesetz. Also gibt es dann doch so etwas wie ein Mindestwohn – und Sozialämter sind sehr geübt darin, dieses zu berechnen.
Dieses Mindestwohn ist übrigens nicht nur Grundlage der Menschenwürde, sondern auch des Kapitalismus. Denn dieser entstand und gedeiht auch heute noch am besten dort, wo die klimatischen Bedingungen besonders ungünstig sind – wo es nämlich einen echten Winter gibt. Innerhalb der einzelnen Staaten kamen Industrialisierung und Kapitalismus dort besser voran, wo der Winter härter war – in der Lombardei besser als in Sizilien, in Galizien besser als in Andalusien. In England wie in Deutschland spielen die internen Klimaunterschiede keine signifikante Rolle, denn im Norden wie im Süden haben beide Länder „neun Monate Winter und drei Monate keinen Sommer“ (Napoleon über Deutschland).
Und warum ist der Winter so wichtig? Weil man in ihm verhungern und erfrieren kann. Man hat eben nicht die Chance, in der freien Natur genug Nahrung zum Überleben zu finden, weil mehrere Monate pro Jahr die Natur praktisch keine Nahrung liefert – und in genau diesen Monaten besteht auch die schiere Notwendigkeit, sich durch Wohnung und Heizung vor Kälte zu schützen. Wir Abendländer können also nicht karibisch unbeschwert in den Tag hineinleben, denn wir wissen, dass bald schon der nächste Winter kommt. Wir müssen vorsorgen, sparen, langfristig denken.
Neben dieser traditionellen Vorsorge-Mentalität begünstigt der Winter auch die Arbeitsteilung und die Entstehung von breit angelegten Massenmärkten. Man braucht eben in Mitteleuropa zum Überleben eine deutlich größere Zahl an Produkten als in den Tropen – das Geld musste nicht nur für Nahrungsmittel, sondern auch für Bekleidung, Behausung und Brennstoff reichen. Für die Unternehmer ergab sich dadurch frühzeitig ein Anreiz zu einer Massenproduktion sowie einer Steigerung der Arbeitsproduktivität.
Offenbar ist ja der Winter ein weit wichtigerer Geburtshelfer des Kapitalismus als die von Max Weber so hervorgehobene protestantische Arbeitsethik: Die kälte-erprobten Japaner fanden sich hervorragend im Kapitalismus zurecht, auch ohne zum Calvinismus überzutreten, und die Entwicklungsunterschiede zwischen Nord und Süd in den katholischen Staaten Frankreich, Italien und Spanien lassen sich ebenfalls nicht auf religiöse Einflüsse zurückführen. Möglicherweise gilt Weber ja eher umgekehrt: Der Protestantismus konnte sich nur in denjenigen Regionen Europas dauerhaft durchsetzen, die mit unwirtlichen Wintern geschlagen sind.

 

Detlef Gürtler ist Wirtschaftsjournalist und Buchautor. Er lebt in Berlin und im spanischen Marbella.

 

Text: Detlef Gürtler