So putzig, traditionell und bedächtig es heute klingt, wenn man das Wort „Manufaktur“ verwendet: Es gab Zeiten, da waren es die fortgeschrittensten Branchen in den fortgeschrittensten Ländern, in denen die Manufakturen blühten. Schon im antiken Rom beispielsweise gab es eine ganze Reihe von Manufaktur – Großbetrieben, meist in staatlichem beziehungsweise kaiserlichem Besitz, in denen Sklaven die Konsumgüter für den Bedarf der Hauptstadt herstellten. An Größe übertroffen wurden die römischen Manufakturen erst wieder im 17. Jahrhundert – in Indien. Nirgends auf der Welt wurde damals in so großem Maßstab produziert wie dort. In einigen Städten wie Kalikut waren zehntausende Spinnerinnen und Weber damit beschäftigt, Baumwollstoffe (Calicos) herzustellen; in ganz Indien arbeiteten wohl mehr als eine Million Menschen in Textilmanufakturen. Auch die Nadelherstellung, an der Adam Smith 1776 im „Wohlstand der Nationen“ den Segen der Arbeitsteilung erläuterte, fand, rein gedanklich, in einer Manufaktur statt, in der sich die Handarbeiter die verschiedenen Arbeitsschritte der Nadelfertigung untereinander aufgeteilt hatten. Wir würden das heute ja Industrie nennen (wie die Angelsachsen, deren „industry“ so viel bedeutet wie die deutsche „Branche“), wenn in unserem Sprachgebrauch die „Industrie“ nicht mit dem Nachfolger der Manufaktur verheiratet wäre – der Fabrik. Sie wurde übrigens von einem Friseur erfunden, nämlich von einem gewissen Richard Arkwright. Er hatte sich 1762 als Perückenmacher selbstständig gemacht und reiste in England umher, um Menschenhaar einzukaufen. Mit einer Zufallsbekanntschaft auf einer dieser Reisen, dem Erfinder John Kay, gründete er ein Baumwollspinnunternehmen. Die Antriebsenergie für die Spinnmaschinen bezog er aus dem Entwässerungsstollen einer Bleimine in Cromford. Und weil der Wasserstrom kräftig und stetig war, baute Arkwright 1771 ein fünfstöckiges Gebäude, um damit einen Großbetrieb zu starten – eben die erste Fabrik der Welt. Die Folgen beschrieb 1845 ein in England tätiger deutscher Journalist: „Rasches Fallen der Preise aller Manufakturwaren, Aufblühen des Handels und der Industrie, Eroberung fast aller unbeschützten fremden Märkte, rasche Vermehrung der Kapitalien und des Nationalreichtums“ – allerdings um den Preis der „Zerstörung alles Besitzes, aller Sicherheit des Erwerbs für die arbeitende Klasse“. Drei Jahre später würde der Schreiber, ein gewisser Friedrich Engels, als Mitautor des Kommunistischen Manifests eine gewisse Bekanntheit erlangen. Dass es den Arbeitern in den Fabriken schlecht erging, bedeutet natürlich noch lange nicht, dass es in den Manufakturen angenehmer zuging. Von einem Unternehmer abhängige Beschäftigte wurden nun einmal zu allen Zeiten ausgebeutet. Von einem Manufakturbesitzer im Athen des vierten Jahrhunderts vor Christus ist uns sogar das Ausmaß der Ausbeutung bekannt: Mit 50 Sklaven in zwei Betrieben erwirtschaftete er einen Reingewinn von 42 Minen pro Jahr – davon hätte man etwa 70 Athener mit Nahrungsmitteln versorgen können. Doch der Unternehmer dachte natürlich nicht daran, seine Profite in der Armenspeisung einzusetzen. Er widmete sich lieber ohne finanzielle Sorgen einer politischen Karriere. Und da er nicht nur Geschäftssinn, sondern auch noch rhetorische Begabung hatte, brachte jener Demosthenes (384-322 v. Chr.) es zu einer bis heute andauernden Berühmtheit.

Text: Detlef Gürtler  Illustration: Raphaela Schröder
Detlef Gürtler ist Wirtschaftsjournalist und Buchautor. Er lebt in Berlin und im spanischen Marbella.